Der BWL-Bote befindet sich seit Jahren in einem Wettlauf mit den Aufgabenausschüssen insbesondere der Industrie- und Handelskammern: die denken sich neue Aufgabenarten und Fragestrategien aus, und wir plaudern aus was verborgen bleiben sollte. Zwar stets erst nach dem Prüfungstermin und immer nur die Frageart (und niemals den Originalwortlaut), haben wir künftigen Prüfungsteilnehmern doch einen gewissen Nutzen vermittelt. Jetzt gibt es offenbar eine neue Stufe der Eskalation.
Bislang nämlich haben wir die Aufgabenlyriker dazu gezwungen, sich immer neue Knallschoten auszudenken, und das haben die auch fleißig gemacht. Die dabei auftauchenden Fragearten entbehrten oft nicht einer gewissen Tiefgründigkeit (Beispiel) und trugen so zum vertieften Verständnis der zugrundeliegenden Sachverhalte bei. Die Prüfung hat also, und das ist ja im Grunde Wünschenswert, ihren Zweck am Abend zuvor bereits erfüllt. Wir haben diesen Prozeß ja auch kontinuierlich begleitet. Jetzt aber scheint es, daß man sich was Neues ausgedacht hat. Was ganz Neues. Oder wirklich so neu?
Gar nicht so neu ist nämlich die Verwendung ungewohnter Begriffe als Falle in Prüfungsfragen. So werden beispielsweise in den Prüfungen der Kämmerlinge auch das Organigramm und der Netzplan als "Projektstrukturpläne" behandelt. Sachlich mag das stichhaltig sein, das Problem liegt aber in der ungewohnten Benennung. Der Prüfungsteilnehmer muß nur wenig wissen, aber sehr trickreich um die Ecke denken – was bei viel zu hohem Adrenalinspiegel natürlich schwerfällt. Jetzt aber sitze ich vor einem Aufgabensatz im Fach "Qualitätsmanagement", in dem eine Aufgabe mit knappem Text den Prüfungsteilnehmer auffordert, die Qualitätsinstrumente zu "strukturieren". Zu was?? Verwirrt schlage ich im Lösungsvorschlag nach und findet zwei Aufzählungen, knapp und kurz, je Nennung ein Punkt. "Strukturieren" soll einfach "unterscheiden nach" heißen. Inhaltlich nicht anspruchsvoll, aber unter "Strukturieren" hat kaum ein Prüfungsteilnehmer das Richtige verstanden – mit dem Ergebnis, daß die Leute sich "geistig erbrechen", sprich alles hinschreiben, was sie wissen und was vielleicht richtig sein könnte. Nur nicht auf die "richtige" Lösung verfallen. Das kostet Zeit, Nerven und Punkte.
Das gleiche Bild findet sich in einer anderen Prüfung zum gleichen Fach: man solle ein "QM-Darlegungsmodell" wählen und die Wahl begründen. Was zum Teufel ist aber ein Darlegungsmodell? Jeder Prüfungsteilnehmer weiß hier, was er wissen soll – man wählt die ISO 9000, weil die ein anerkannter Standard, in der Wirtschaft verbreitet und die Basis für spätere TQM-Systeme ist -, aber keiner schreibt es, weil kaum jemand sich etwas unter einem "Darlegungsmodell" vorstellen kann.
Einfach dagegen scheint noch die Frage nach dem "Kommunigramm", an der ich ebenfalls eine Menge Leute habe scheitern sehen, die gleichwohl auch alle das Richtige gewußt haben dürften: ein "Kommunigramm" ist nämlich ein Kommunikationsdiagramm, also eine Darstellung von Kommunikationsbeziehungen – in der Aufbauorganisation also die Anordnung, die Beratung und der Bericht – allesamt betriebliche Kommunikationsformen. Gemeint ist also einfach ein Organigramm, denn da steht sowas drin. Nur daß keiner drauf verfallen ist, es "Kommunigramm" zu nennen.
Solche Knallkörper sind wohl der nächste Eintrag in meinem kleinen Gruselkabinett der unfairen Prüfungsfragen: alle wissen, was sie wissen sollen, aber niemand kommt drauf. Mußten sich die Prüfungspoeten bislang durchaus scharfsinnige Fragestrategien ausdenken (Beispiel), so ist dies eher eine Billiglösung: anspruchslos, wenig fehleranfällig, schüttelt aber doch das Sieb.
Für alle angehenden Prüfungsteilnehmer aber ziehen wir hier eine eindeutige Lehre: Ohne Fleiß kein Preis. Man muß noch intensiver alte Prüfungsaufgaben inhalieren, noch heftiger die Denkweise der Aufgabenlyriker verstehen. Zum Erfolg gibt es keinen Lift, man muß immer die Treppe benutzen. Jetzt um so mehr als früher, denn anders lernt man nicht die bisweilen seltsamen Verbalkreationen der Aufgabentexter, die gleichwohl zum Verständnis der Aufgaben unerläßlich sind. "Kick-off-Meeting", "Einfluß-Organisation", "Kommunigramm": Mark Etting läßt grüßen. Wer vor diesem Gruß den Kopf in den Sand steckt, der knirscht nachher mit den Zähnen. So einfach ist das!
Links zum Thema: Kapitalwertrechnung: Wo der Untergang droht | Wissen, Können und Erkennen, oder von der Treppe, die zum Prüfungserfolg führt | Kleine Typologie unfairer Prüfungsfragen | Engpaß-Rechnung: wo der dicke Hammer hängt (interne Links)