Akademische Lehre in Deutschland, ein Beispiel

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Während die Studenten streiken und die Politiker von mehr Geld für die Bildung schwadronieren (und Studiengebühren einführen), frage ich mich, wo die Milliarden-Finanzmittel eigentlich geblieben sind. Ein Erfahrungsbericht offenbart jedenfalls, wo sie nicht zu finden sind. Aus dem Leben eines Dozenten, der seine Sache ernst nimmt:

Artikel als MP3 anhören, gesprochen vom Autor:
 

05:00

Die Wecker machen Rabatz. Ich brauche mehrere, denn mitten in der Nacht aufzustehen ist das Schwerste an meinem Job.

 

05:30

Die Haustür fällt hinter mir ins Schloß. Schon um diese Zeit schwül und warm, ein ätzendes Sommerwetter.

 

05:31

Ab ins automobile Getümmel…

 

05:45

Stau in der Baustelle am Erfurter Kreuz.

 

05:50

Stillstand!

 

06:55

mehrere Baustellen und viele entnervende Ampelschaltungen weiter endlich am Ziel… meine Nerven!

 

06:59

Ich habe eine Kopierkarte ergattert.

 

07:00

Der Kopierer geht nicht 🙁

 

07:05

Einen anderen Kopierer gefunden, der geht – hat aber kaum Papier. Wo ist der Hausmeister?

 

07:12

Endlich meine Kopien in der Tasche und die Flucht angetreten, Gott ist das heiß hier im Kopiererraum!

 

07:19

Frühstück bei Rosi.

 

07:45

Im Hörsaal angekommen, mein Gott, die Heizungen. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Ich keuche zum Fenster, Frischluft!!

 

08:00

Und los geht's, spezielle Betriebswirtschaft. Simplex, Operations Research, Strategien, vorletztes Semester. Die Hälfte der Studis haben eigene Laptops mitgebracht aber nicht alle können damit auch umgehen: ein Office-Grundlagentraining gab es nicht. Elektronische Klausuren zu stellen ist daher illusorisch.

 

08:12

der letzte Student trudelt ein, hat wohl auch im Stau gesteckt. Jetzt sind 41 Studienteilnehmer in einem wilhelminischen Klassenzimmer vereint, der erste vorne lehnt seine Bücher und Skripte an meinen Laptop-Bildschirm.

 

09:30

Ab in die Pause, wer zuerst kommt, ergattert einen Platz in der viel zu kleinen Cafeteria.

 

09:45

Die Hälfte der Studis steht am Ende der Pause noch in der Kassenschlange. Rosi hat heute keine Unterstützung.

 
11:15

Nach der vierten Stunde große Pause. Einigen Gesichtern ist die Müdigkeit anzusehen. Alle Studenten hier arbeiten nebenher, und die Enge tut ein übriges.

 

11:45

Fünfte Stunde, die Sonne brennt in den Hörsaal. Man kann kaum verdunkeln, für den Overhead-Projektor wird es langsam zu hell.

 

14:00

Ich klettere mit den Teilnehmern durch ein Gleichungssystem (Materialverbrauchsplanung, Materialwirtschaft, lineare Optimierung) aber vernünftiges Arbeiten ist nur bei offener Tür möglich. Immerhin frieren selbst die Damen nicht mehr.

 

15:00

Veranstaltungsende, mir hängt der Magen in der Kniekehle. Die Studis haben sich alles was zum Essen mitgebracht und während der Veranstaltung genüßlich gefuttert, aber als Vorturner kann ich währenddessen natürlich nichts essen.

 

15:10

los geht's auf den Rückweg, Gummibärchen sind gute Beifahrer, lechz!

 

15:20

Stau schon an der Auffahrt, Mist!

 
15:30

Endlich auf der Autobahn, es geht im Schneckentempo.

 
16:55

Zu Hause, Schluß mit Lehreinsatz für heute. Verdienst bisher: 19,60 Euro Fahrgeld und 168 Euro Honorar.

 

17:50

Im Büro, sechs Rechner und eine Klimaanlage, die leise pustet. Mir geht es wieder gut. Also ab in die eigentliche Arbeit…

 

18:00

Geistesblitz!

 

19:15

Erster Entwurf für eine leckere Klausur fertig, jetzt noch die Grafiken zaubern…

 

19:48

OK, die notwendigen Skizzen produziert und eingebaut…

 

20:05

Fein, eine wunderschöne Klausur gezaubert. Damit verdient: 15,68 Euro, muß morgen aber noch mal nachrechnen. Fehler lauern immer und überall…

 

20:10

Schluß für heute, Feierabend. Nur noch ein wenig an neuen CD-Inhalten arbeiten…

Fünfzehn Stunden Einsatz für 183,68 Euro Honorar und 19,60 Euro Fahrtkostenerstattung, nichtmal der Benzinpreis. Nebenher habe ich durch den Verkauf meiner BWL CDs und Bücher ein Vielfaches verdient, denn von dem eigentlichen Lehrhonorar kann ich nicht leben.

Der Artikel ist absolut nicht als Kritik an der hier namentlich nicht genannten Lehrinstitution gedacht, denn die ist staatlich und hat kaum Spielraum, die Bedingungen zu verbessern. Ich will auch nicht jammern, denn ich habe mir ja meinen Job selbst ausgesucht. Keiner hat mich gezwungen. Hätte ich aber keine anderen Verdienstquellen, dann wäre ich schon längst gezwungen gewesen, aufzuhören.

Als Student wie auch als Lehrender braucht man unter den hier skizzierten Bedingungen eine Menge Idealismus. Ich verstehe Kollegen, die in die Industrie gehen, oder ins Ausland, denn da gibt es überzeugende Argumente. Nur sehr wenige haben ein zweites Einkommen, das es ihnen ermöglicht, solche Lehreinsätze ohne wirtschaftliche Sorgen durchzuziehen. Der Sache ist damit aber nicht gedient, wenn im Bereich der Bildung ein Job nicht mehr zum Leben reicht.

Wir haben offenbar aufgehört, zu investieren. Wir befinden uns am Ende der Geschichte, und nicht mehr am Anfang der Zukunft. Nirgends wird das so deutlich wie bei der fortgesetzten Vernachlässigung der Bildung in diesem Lande. Schon frühere Regierungen haben Gelder versprochen und dann doch gekürzt. Das macht Frau Merkels Reden nicht glaubwürdiger als ein Pioniergelöbnis aus der ehemaligen DDR.

Links zum Thema: Studiengebühren und Elitebildung: über die heiligen Kühe des Sozialismus | Mindestlohn in der Bildungsbranche: der Dozent an der Mülltonne? | Prüfungsausschüsse: kostenlos oder umsonst? (interne Links)

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