Die Reform des Handelsrechts: ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel

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Wenn das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG), sollte es noch in dieser Legislaturperiode kommen, das Vorsichtsprinzip aushöhlt, so ist dies ein tiefgreifender Wandel. Seit über hundert Jahren geltende Grundprinzipien werden aufgegeben. Das aber deutet über sich selbst hinaus: was wir hier erleben, ist nicht "nur" eine Reform, sondern ein Wechsel der Leitprinzipien, ein Paradigmenwechsel. So etwas ist aber nie zufällig, sondern immer ein Abbild zugrundeliegender gesellschaftlicher Veränderungen, die längst Wirklichkeit sind.

 

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Neue Leitprinzipien aus dem internationalen Rechnungswesen

Die findet man aber erst, wenn man die dem BilMoG zugrundeliegenden Prinzipien anschaut, denn die sind weitgehend aus den Grundgedanken der International Financial Reporting Standards (IFRS) abgeleitet. Während nämlich im kaiserlichen Handelsrecht noch überhaupt keine Veröffentlichungen unternehmerischer Zahlen vorgesehen waren, wurden die bekannten und heute selbstverständlichen Offenlegungspflichten erst 1986 durch das damalige Bilanzrichtliniengesetz (BiRiLiG) in das Handelsrecht eingeführt. Sie sind also ein recht junges Phänomen � und bisher noch stark vom Vorsichtsgrundsatz beeinträchtigt, der die Übersicht über die Lage der Unternehmung erschwert. Kennzahlenrechnungen sind daher oft erst nach umfangreichen Um- und Neubewertungen aussagekräftig. Das ist im internationalen Rechnungswesen anders: hier bekommt der Abschlußleser von Anfang an ein viel "richtigeres" Bild vermittelt. Das hängt damit zusammen, daß der Leser des IFRS-Abschlusses in der Regel Kapitalmarktteilnehmer ist.

Wirtschaft ist ein Phänomen der Gesellschaft, und die Jahresabschlüsse von Unternehmen sind daher auch gesellschaftliche Dokumente. Sie geben Auskunft über die Verwendung von Produktionsfaktoren, also über unseren Stoffwechsel mit der Natur. Dies ist nach dem "alten" Leitbild des letztlich kaiserlichen Handelsrechts eine Sache der Unternehmung und nicht der Öffentlichkeit. Die Bilanzrichtlinien von 1986 waren damit ein Stück Demokratisierung des Rechnungswesens: jeder konnte plötzlich � ohne Bedarfsnachweis! � die Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen der großen Unternehmen einsehen, und damit Dinge erfahren, die zuvor nur der Unternehmensführung zugänglich waren. Managementwissen für die Massen, eine Reform mit Tiefgang!

Neue Kapitalmarktorientierung des Handelsrechts

So wie die produzierende Wirtschaft Produktionsfaktoren kombiniert um aus potentiell nützlichen Gütern, die die Natur bereitstellt, tatsächlich dem Menschen nützliche Produkte zu machen, so tauschen wir die Anteile der Unternehmen, die dieses leisten, an den Börsen aus. Der Kapitalmarkt ist also der Ort, an dem der Stoffwechsel des Menschen mit der Natur durch den Austausch von Kapital gesteuert wird. Das Kapital ist der höchste aller Faktoren, denn mit Kapital kann man Boden, Arbeit und Information kaufen; umgekehrt ist das weitaus schwieriger. Es macht daher Sinn, mit der schon seit vier Jahren anstehenden Anpassung des Handelsrechts an die Grundprinzipien des IFRS-Rechnungswesens die Kapitalmarktorientierung auch zum Leitbild des Handelsrechts zu machen. Das ist der wahre Kern der nur scheinbar technischen Reform: das Handelsrecht paßt sich den kapitalmarktnahen Handlungsmustern unserer Zeit an. Es wird daher offener und Bewertungswahlrechte werden abgeschafft oder eingeschränkt, um den bilanziellen Ausweis dem Grunde und der Höhe nach realistischer zu gestalten.

Schon veraltet vor Inkrafttreten?

Leider gibt es hier ein Problem: die Kapitalmärkte haben seit der Zulassung derivativer Finanzinstrumente in den 1970er Jahren kaum noch materielle Güter zum Gegenstand, sondern weitgehend nur noch Finanzwetten. Sie beschäftigen sich nur noch mit sich selbst. Der Emissionshandel ist nur das neuste, vielleicht aber auch schädlichste Beispiel für diesen Mißstand. Weniger als 1% der auf Kapitalmärkten gehandelten Werte sind heute noch "beißfähig". Dieses Kartenhaus stürzt derzeit mit atemberaubender Geschwindigkeit ein. Ist es in Wirklichkeit dieser Einsturz der ergrünten Kasino-Wirtschaft, der die Bilanzrechtsmodernisierung behindert? Es könnte nämlich sein, daß wir mit der Implosion der Börsen längst ein neues Paradigma heraufziehen sehen. Es ist möglich, daß der Bärentanz an den Börsen das Zeichen einer neuen Zeit ist, in der das Wohl der Menschen wieder im Mittelpunkt steht, und nicht das des Kapitalanlegers. Dann allerdings wäre das BilMoG veraltet, bevor es überhaupt im Bundesgesetzblatt steht.

Links zum Thema: Die Reform des Handelsrechts: vom vorsichtigen Kaufmann | Framework: klare Gliederung der Grundprinzipien in den IAS/IFRS | Deutschland am 9. November: vom Untergang des Liberalismus | Die "Goldene Aue", oder was wir vom Kaiserreich lernen sollten | BilMoG: Übersicht über geplante Neuregelungen im Handelsrecht | BilMoG: Die Neuregelung der Buchführungspflicht | BilMoG: Neuregelung der Bilanzierung der immateriellen Vermögensgegenstände | BilMoG: Übersicht über geplante Neuregelungen im Handelsrecht | Skript zum Jahresabschluß nach HGB | Skript zur Rechnungslegung nach IAS/IFRS (interne Links)

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