»Am Deutschen Wesen«, oder vom Fortwirken der Zwangsmentalität

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Überholte politische Strukturen sterben so langsam, weil nicht nur die, die sie begründet haben, sondern auch all ihre Kinder und Kindeskinder sterben müssen, ehe man neu nachdenken darf. So ist es auch mit dem Sozialismus, der unter dem einen oder anderen Vorzeichen noch immer das Leitbild der deutschen politischen Kultur ist, auch wenn man es nicht wahrhaben will oder soll.

Das offenbart sich nicht nur in Gesundheitswesen und Energiewirtschaft, sondern besonders in den kleinen Strukturen der Wirtschaft, die schon seit Jahrhunderten so sind, wie sie eben sind, und über die gerade deshalb niemand nachdenkt. Ein gutes Beispiel sind die Industrie- und Handelskammern, deren Existenz übrigens auch auf einen Diktator zurückgeht, nämlich auf Napoleon, den man, im krassen Gegensatz zum Hitler, heute ja schon wieder feiern darf.

Der schreckliche Korse nämlich genehmigte Anfang des 18. Jahrhunderts die ersten Selbstverwaltungsorganisationen („Kammern“) der gewerblichen (im Gegensatz zur handwerklichen) Wirtschaft, aus denen die modernen Industrie- und Handelskammern hervorgingen, die seit 1956 im Gesetz zur vorläufigen (!) Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern niedergelegt sind. Das ist an sich nichts Verwerfliches, denn die Leistungen, die die Kämmerlinge anbieten, wie Gründer- und Unternehmerberatung, Hilfe in Zoll- und anderen Verwaltungsverfahren oder im Bereich der Aus- und Fortbildung sind ja gewiß notwendig, sinnvoll und nicht Gegenstand der Kritik. Der dem Gesetz zugrundeliegende zünftische Zwangsgeist ist aber nicht die Lösung, sondern selbst das Problem.

Die Pflichtmitgliedschaft, und auch das ist ein Vermächtnis Bonapartes, geht nämlich auf die Zwangsorganisation der mittelalterlichen Zünfte zurück, und bis heute sind die IHKen Zwangsorganisationen, in denen alle gewerblichen Unternehmer, nicht aber beispielsweise Freiberufler, Mitglied sein müssen. Und da liegt der sprichwörtliche Hase im Pfeffer, denn der unfreiwilligen Mitgliedschaft als solcher steht nach Meinung vieler Unternehmer keine wahrnehmbare Leistung gegenüber. Die Kammern lassen sich nämlich die Wahrnehmung ihrer Aufgaben gut bezahlen: so kostet beispielsweise eine Fortbildung meist mehrere Tausend Euro. Wofür braucht man dann aber eine mitgliedschaftlich verfaßte und durch Zwangsabgaben finanzierte Organisation, die ihre Leistungen dennoch nach Aufwand abrechnet?

Zumal es auch anderswo ganz ohne Zwang geht: die Internationale Handelskammer in Paris beispielsweise (Deutsche Außenstelle) zeichnet nicht nur für die weltweit anerkannten Liefer- und Versandbedingungen „Incoterms“ verantwortlich, sondern auch für das zugehörige Schiedsgericht, das in Streitfällen entscheidet – zwar auch nicht gebührenfrei, aber eben doch gänzlich ohne Zwangsmitgliedschaft. Ähnlich ist es mit den Kammern in allen anderen europäischen Ländern. Warum geht so was nicht in Deutschland?

Ansätze hat es schon gegeben, wenn auch mehrere Klagen der schon in Vereinen organisierten Kammerverweigerer vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gescheitert sind. So gab es sogar schon einen Vorstoß zur Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft und Überfügung der Kammern in Kammervereine – und zwar ausgerechnet unter Rot-Grün. Mit dem Regierungswechsel im September 2005 wurde der Vorschlag aber zu den Akten gelegt, und Angela Merkel zeigt derzeit keine Tendenzen, über die IHKen nachzudenken.

Bleibt die Hoffnung auf eine Liberalisierung durch den Europäischen Gerichtshof, vor dem inzwischen ebenfalls Klagen gegen die IHK-Zwangsmitgliedschaft anhängig sind. Ob, wann und wie der EuGH entscheidet, ist aber ungewiß – und erst Recht, wann und wie die Entscheidung dann in deutsches Recht übernommen wird. Die Politik jedenfalls zeigt keine Liberalisierungstendenzen. Sie denkt statt dessen noch über die Ausweitung von Zwangsversicherungen und Zwangsmitgliedschaften nach: beispielsweise in der Bürgerzwangsversicherung, die auf die eine oder andere Art wohl über uns kommen dürfte. Das Deutsche Wesen, so lernen wir daraus, hat noch immer keine liberale Dimension. Es will staatliche Wohltaten zwangsweise gewähren. Es ist im Kern noch immer sozialistisch. Das ist wenig zeitgemäß, aber wir haben offenbar noch immer keine Lernfähigkeit erworben. Alle Welt globalisiert und liberalisiert sich, aber Deutschland kriegt einen kollektiven Rückfall in die Ständewirtschaft. Weiter wie bisher, das ist die Devise auf dem Weg in die dritte deutsche Kommandowirtschaft.

Links zum ThemaBald keine IHK-Zwangsmitgliedschaft mehr? | Bürgerversicherung: Die Leitbilder der Zwangsmentalität (interne LinksHomepage der Industrie- und Handelskammern | Homepage der Deutschen Außenhandelskammern | Deutscher Industrie- und Handelskammertag | ICC Deutschland (externe Links)

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