Es mag nicht den Anschein haben, aber die Softwarebranche befindet sich seit Jahren in einer schweren strategischen Krise. Und damit ist nicht das sogenannte Dotcom-Sterben etwa um die Jahrtausendwende gemeint – das war eine kurzfristige Hausse, die zum entsprechenden Absturz führte -, sondern eine grundsätzliche und tiefgreifende Existenzkrise, die dazu führen könnte, daß die Branche der Bits und Bytes sich in ein paar Jahren grundlegend wandelt. |
Verlust der führenden Aufgaben |
Seit C64 und Visicalc gab es führende Aufgaben in der Softwareindustrie, nämlich die Steigerung der Leistung der Hardware und entsprechend die Einführung neuer Funktionen der Software. Seit den 8080er- und den 6502er-Prozessoren in den 70er Jahren verdoppelten sich alle ca. 18 Monate die technische Leistung der jeweils neusten Rechner insbesondere hinsichtlich Speicherplatz und Taktfrequenz. Analog führten Softwarehersteller immer neue Funktionen ein, die als "Killer-Applikationen" ganz neue Arbeitsfelder erschlossen (so initiierte das Apple-Produkt "Visicalc" einst das Genre der Tabellenkalkulationsprogramme) oder evolutionär in vielen Versionsschritten weiterentwickelt wurden. Beides führte zu einer Vergrößerung der Freiheit der Nutzer. Diese konnten nämlich mit preisgünstigeren Rechnern mehr anfangen. Kein Wunder also, daß in gerade mal einer Dekade von 1980 bis 1990 aus teuren Anlagen wissenschaftlicher Institutionen ein Massenphänomen wurde, das derzeit im "pervasive computing" kulminiert, in überall verfügbaren Westentaschen-Geräten, die einst megateure Supercomputer gewesen wären. Computer und Kommunikationstechnik als Werkzeuge der Freiheit – noch zu Zeiten des gesetzlichen Verbots von Funk- und Satellitentechnik Anfang der 80er in Deutschland undenkbar. Eine Technik hat die Politik überrollt. |
Vom Ende der Fahnenstange |
Damit ist jetzt Schluß, oder genauer, schon seit bald zehn Jahren. So kann, wer unter Microsoft ® Office ® 97 ein VisualBASIC-Makro schreiben konnte, dasselbe auch unter der aktuellen Version 2003 tun. Es gibt zwar ein paar neue Eigenschaften und Methoden, und natürlich auch ein paar neue Fehler, aber im Kern hat sich seit acht Jahren nicht mehr viel verändert. Und die Funktionsfülle selbst eines Programmes wie Word überfordert die "Normalnutzer" beiweitem. Der Hersteller Microsoft kann also keine neuen Kunden mehr mit neuen Funktionen gewinnen – und Word läuft auf jedem Billigrechner aus dem Kaufhaus heute doch eher befriedigend. Uns sind die Killer-Applikationen abhanden gekommen. Das offiziell noch immer gepredigte Paradigma der kontinuierlichen Leistungssteigerung ist uns also längst ad absurdum geführt, was man auch gut daran sehen kann, daß bekannte Fehler nicht mehr beseitigt werden. Technologie- und Produktlebenszyklen führen nicht mehr zu neuem Absatz. |
Monopolisierung und technische Standards |
Schon jetzt werden Funktionen, die die Freiheit des Anwenders erhöhen, nicht mehr eingebaut: so hätte XML das Potential, Dokumente verschiedener Hersteller untereinander wirklich austauschbar (und nicht nur importierbar) zu machen: was einer in Word schreibt, kann der Nächste in Lotos oder OpenOffice weiterbearbeiten. Solche Interoperabilität wird aber nicht gewünscht, wird also auch nicht zum Paradigma, denn dann müßten die Hersteller nur noch hinsichtlich des User-Interfaces konkurrieren. Das aber würde die Wettbewerbsintensität erhöhen. Viel einfacher für den Softwarehersteller ist es aber, proprietäre Formate zu verwenden, die nur über Metaformate (WMF, RTF) oder gar nicht (Adobe PageMaker) austauschbar sind. So kann der Anwender in eine Art virtuelles Gefängnis gesperrt werden, denn er kann nicht auf Konkurrenzprodukte ausweichen, oft deren Daten nichtmal exportieren. Liegt aber vielleicht gerade hierin der Keim eines neuen Paradigmas? |
Weg von der Freiheit, hin zur Sicherheit |
Plötzlich redet Microsoft dauernd von Sicherheit, ausgerechnet Microsoft – sind doch gerade Windows-Rechner die ärgsten Viren-Schleudern und Ziele der Porno-Spammer. Daß dem Anwender mit neuen Service-Packs plötzlich ein Gefühl von Schutz und Sicherheit vermittelt werden soll, bezweckt aber auch etwas völlig Anderes, denn "Sicherheit" kann auch bedeuten, daß das virtuelle Gefängnis noch dickere Mauern kriegt. So gibt es inzwischen Rechner mit Krypto-Chips, die ab der nächsten Windows-Version die Zertifizierung jeder einzelnen Hard- und Softwarekomponente über das Internet übernehmen sollen. Dies stellt nicht nur sichere Kommunikation sicher, sondern erlaubt auch Zensur oder die zentrale Suche nach "verbotenen" Dokumenten durch den privilegierten Zugang für Strafverfolgungs- und Zensurbehörden. Aus TCP/IP wird langsam TCP/M$, und in einem Gang wird durch die Erfordernis der teuren Rezertifizierung nach jeder Modifikation des Quellcodes die blühende OpenSource-Welt gleich mit kaltgestellt. Wir beobachten also einen Paradigmenwechsel weg von ständiger Steigerung der Freiheiten des Anwenders hin zu mehr Sicherheit, was auch heißt, zu mehr Kontrolle und Gängelung. Man verkauft nicht mehr schnellere und bessere Rechner – bei den Taktfrequenzen tut sich seit einem Jahr fast nichts mehr -, sondern sicherere Rechner und Software. Diese erlaubt aber auch eine bessere Rechtedurchsetzung der Lizenzgeber. Und wir alle wissen, daß bisher eine Menge Software raubkopiert wurde. Damit soll jetzt offenbar Schluß sein. |
Mehr Umsatz durch weniger Freiheit |
So einfach ist die Formel des neuen Marketing-Mix: monopolisiert man die Märkte durch Softwarepatente und entmündigt man die Anwender durch Digital Rights Management, das viele daher zutreffend auch als Digital Restrictions Management bezeichnen, dann kann man auch die zum Kauf neuer Versionen zwingen, sie sich bisher an illegalen Quellen bedient haben. Das geht besonders gut, wenn zugleich neue technische Standards eingeführt werden, die mit alter Software nicht mehr zusammenarbeiten. Der Anwender zahlt im Effekt für seine eigene Entmündigung. Darüber, ob das wirklich gutgehen kann, werden wir an dieser Stelle zur Freude der Softwarehersteller in Kürze verschärft nachdenken. |
Links zum Thema |
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