Mit einiger Überraschung haben wir festgestellt, daß bei den IHK-Prüfungen jetzt Spickzettel legalisiert wurden. Auch einige liebgewonnene Fehler wurden plötzlich korrigiert. Insgesamt zeichnet sich aus verstreuten Hinweisen inzwischen ein zusammenhängendes Bild ab: eine grundlegende Reform mindestens der Lehrgänge „Technischer Betriebswirt“ und „Betriebswirt/IHK“ ist ganz offenbar geplant. Wir spekulieren, worin diese Neuordnung bestehen könnte.
Näher ans Studium
Während es ein Merkmal der Schule ist, sich auf den definierten Lehrstoff eines Lehrplanes zu beschränken und in der Prüfung nur und ausschließlich diesen „abzufragen“, denkt das Studium vielschichtig, betrachtet einen Gegenstand von mehreren Seiten, ist, in einem Wort, wissenschaftlich, denn das Kriterium der Wissenschaftlichkeit ist die Falsifizierbarkeit von Aussagen über die Wirklichkeit. Es scheint sich abzuzeichnen, daß man bei der IHK vom Bild der Schule weg und zum Leitbild des Studiums hingelangen will. Das erfordert ganz gewiß mehr Arbeitseinsatz von den Lehrgangsteilnehmern. Es macht die IHK-Lehrgänge schwieriger. Die Beschränkung auf einen engen Stoffplan wird aufgeweicht. Lehrstandpunkte verschwinden und Prüfungen werden offener aber damit auch unvorhersagbarer. Man braucht nicht (nur) Wissen, sondern mehr Können und Erkennen.
Näher an die Wirklichkeit
Das ist nicht nur eine schlechte Nachricht, denn non scholae sed vitae discimus, wie der Lateiner weiß: nicht für die Schule, sondern für die Katz – lernten wir. Das soll sich offenbar ändern: weniger „Standardmaterial“ aber dafür komplexere Argumentationsketten in Prüfungsarbeiten entsprechen dabei realistischeren Aufgabensimulationen, denn auch in der bösen Wirklichkeit gibt es ja meist weder vorgekaute Daten noch starre Lösungswege. Das Leitbild bewegt sich, in einem Wort, vom ausführenden unmündigen Arbeitnehmer mit betriebswirtschaftlichem Halbwissen hin zur echten Führungskraft mit betriebswirtschaftlicher Fachkompetenz. Kreativität und neuartige Lösungsstrategien siegen über auswendig gelernte schematische Lösungsschablonen. Das ist ein hohes Ziel. Und es setzt nicht nur die ungeliebten IHK-Textbände (hoffentlich) auf die Abschußliste:
Neuer Wettbewerb der Anbieter
Denn es zeichnet sich auch ein Problem für Lehrgangsanbieter bisweilen lügenhaften Turbolern-Werbeversprechen oder mit bisweilen heftigen Fehlern in ihren Lehrmaterialien (Beispiel 1, Beispiel 2, Beispiel 3) ab, denn wer das wörtliche Mitschreiben und schablonenhafte Lernen fördert, der produziert jetzt viel mehr Durchfaller. Das aber ist gerade wünschenswert, denn in der Wirklichkeit ist ja auch kaum etwas nach starren Lösungsansätzen zu lösen. Anbieter, die die hier prognostizierten Änderungen nicht mitmachen können oder wollen, werden daher möglicherweise vom Markt verschwinden, was nicht immer schlecht ist: Non scolae sed vitae… Nur daß die Kunden solcher Veranstalter halt vorher wissen sollten, worauf sie sich einlassen. Das aber ist oft noch nicht der Fall.
Heftigere Prüfungen
So ist die neue Prüfungsverordnung nur der letzte Akt in einem Schauspiel, das schon seit Jahren läuft. Wer schon länger dabei ist, oder die alten Prüfungen vergleicht kann bestätigen, daß diese stets schwerer als ihre Vorgänger waren. Das sagt uns aber nicht nur, daß eine Prüfungsvorbereitungen mit zu alten Prüfungsfragen heute oft ins Leere läuft: schon früher gab es oft Überraschungen, die im Licht der neuen Prüfungsverordnung schon in die Richtung weisen, die jetzt manifest geworden ist. Besonders die immer deftigeren Knallschoten zur Break Even Rechnung waren aber nicht nur ein Gesellschaftsspiel mit Selbstzweck, sondern anscheinend Teil einer grundlegenden Reformstrategie:
Aufwertung der Abschlüsse
Wir beteiligen uns an dieser Stelle nicht an den häufigen und bisweilen erbittert geführten Debatten über die Wertigkeit der IHK-Betriebswirte auf dem Arbeitsmarkt, prognostizieren aber, daß eine grundsätzliche Aufwertung dieser Abschlüsse geplant und längst unterwegs ist. Da aber kein Lift zum Erfolg führt, müssen wir alle die Treppe nehmen, Dozenten, Bildungsträger wie Teilnehmer, denn es wird für alle härter. Und das ist auch gut so, per aspera ad astra sozusagen: ohne Fleiß kein Preis. Das dient am Ende auch den Absolventen, auch wenn sie geringer an Zahl sind, denn der Gesamtwert eines Abschlusses ist konstant. Variabel ist nur die Zahl derer, auf die sich dieser Gesamtwert verteilt.
Ein fundamentaler Strategiewechsel
Strategien sind bekanntlich langfristig, überlebens- und nicht gewinnorientiert und qualitativ statt quantitativ. Fügt man die vielen Informationsbruchstücke zusammen, die überall im Dunstkreis der Kammern und ihrer Fortbildungslehrgänge herumliegen zusammen, so kann vermutet werden, daß aus den bisherigen Fortbildungen auch formal ein höherer Abschluß werden soll. Ob der nachher „Diplom“ oder „Master“ oder wie-auch-immer heißt, wage ich nicht zu prognostizieren, aber die diesbezügliche Landschaft ist ja ohnehin unübersichtlich geworden. Nur eins ist sicher, nämlich daß der alte Trott vorbei ist. Und das ist auch gut so. Es gibt also viel zu tun. Lassen wir andere abwarten…
Links zum Thema
Stöber, Raschel, Blätter: bald mit dem Waschkorb zur IHK-Prüfung? | »Rechnungswesen/Controlling«: was wir aus der Prüfung vom 02.03.2006 lernen können | Wie aus Lernen Erfolg gemacht wird | IHK-Lehrgänge: Das Drama mit den Textbänden | Die IHK-Textbände: Warum sie schlecht sind, weshalb man sie dennoch braucht und wo man sie herkriegt | »Donald Dick«: Porno-Sprache in Übungsaufgaben! | FIFO, LIFO und die SGD: veraltete Aufgaben, falsche Lösungen | Unfaire Prüfungsfragen: Ein neues Beispiel von der SGD (interne Links)
Literatur
Zingel, Harry: „Lehrbuch für Prüfungsteilnehmer. Schriftliche und mündliche Prüfungen erfolgreich überstehen“, 14,8 x 20,9 cm, 136 S., 14,80 EUR, ISBN: 3-937473-06-8, Amazon.de | BOL | Buch.de.