»Schmarotzer-Vorwurf«: so groß ist der Realitätsverlust

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Nachdem der Bundeskanzler die angeblich so weitverbreitete "Mitnahmementalität" gerügt hat, die angeblich "bis weit in den Mittelstand" herrsche, raschelt es im Blätterwald. Den BWL-Boten wundert dies, zeugt der amtliche Vorwurf des Kandesbunzlers doch von einem für die politische Kaste symptomatischen Realitätsverlust. Warum aber bemerkt dies keiner?

So haben wir schon zum Jahreswechsel vorgerechnet, daß die Steuer- und Abgabenquote eines Arbeitnehmers mit einem Monatsgehalt von 2.000 € satte 72,78% beträgt. Daran ist, wenn ich nichts Wesentliches verpaßt habe, fast ausschließlich die Politik schuld. Würden wir einem solcherart geschröpften Arbeitnehmer also eine "Mitnahmementalität" verübeln – zumal Nutzenmaximierung ohnehin als Teil des Rationalprinzipes jedem wirtschaftlich handelnden Subjekt unterstellt wird?

Wir wundern uns also über die Rüge des Kanzlers, der doch an Zwangsumlagesystemen mit großem Altersstarrsinn festhalten will, zum Beispiel bei der sogenannten "Bürgerversicherung", in die bekanntlich ebenfalls jeder einzuzahlen gezwungen werden soll, nach Höhe des Einkommens und nicht etwa nach in Anspruch genommener Leistung. Kein Wunder also, daß wiederum alle versuchen werden, alles "mitzunehmen", denn zahlen muß man schließlich so oder so.

Noch verständlicher wird die "Mitnahmementalität", bedenkt man die derzeit herrschende Torschlußpanik: wer will es einem Sozialhilfeempfänger verübeln, daß er jetzt noch schnell alles beantragt, was drin ist, denn tritt Hartz IV erst mal in Kraft, ist Schluß mit einer Vielzahl von Leistungen – und die Arbeitsmarktreformen sind vielleicht nicht an sich schon "Armut per Gesetz", wie es die PDS behauptet, werden aber sehr wohl dazu, wenn die Regierung zugleich Prämien für den Export von Arbeitsplätzen zahlt.

Wie groß muß also der Realitätsverlust sein, der sich in diesem abstrusen Vorwurf äußert, und vor allem, wie symptomatisch ist das für die Politik im allgemeinen? Einen Hinweis gab Otto Schily, einst selbst Unterstützer des roten Terrors in Deutschland aber nunmehr zum obersten Terroristenjäger mutiert, der den bei den morgigen Wahlen in Brandenburg und Sachsen befürchteten Erdrutschsiegt der rechtsradikalen Parteien dem Bundesverfassungsgericht anlastete, das das Verbotsverfahren gegen die NPD nicht auf die Reihe gekriegt hatte, weil die Zeugen, die gegen die NPD ausgesagt hatten, zu einem großen Teil Spitzel des Verfassungsschutzes waren: daß die Politik selbst an Wahlmüdigkeit und Extremismus schuld sein könnte, kommt Herrn Schily anscheinend gar nicht in den Sinn: keine "Volksbeschimpfung" durch Schröder also, sondern eine Verhöhung des Bundesverfassungsgerichtes durch Schily. Die Politik überholt damit jede Satire. Wir befürchten allerdings, daß das Ende der nach unten offenen Absurditätsskala noch lange nicht erreicht ist…

Links zum Thema: Steuerquote bei Arbeitnehmern 2004: kein nennenswerter Rückgang | Bürgerversicherung: Die Leitbilder der Zwangsmentalität | Hartz IV: Drastische Mehrkosten im Vorfeld | Exportprämie für Arbeitsplätze beschlossen | NPD-Verbotsverfahren gescheitert (interne Links)

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