Mit Wenn und Aber: mehrdeutige Aufgabengestaltungen zur Kennzahlenrechnung

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Immer wieder haben wir an dieser Stelle auf fehlerhafte oder zweifelhafte Aufgabenstellungen hingewiesen. Jetzt ist im uns wohlbekannten Dunstkreis der Industrie- und Handelskammer wieder ein neues Beispiel für eine uneindeutig gestellte Aufgabe gefunden worden, das zugleich auf ein Grundübel in vielen Aufgaben zur Jahresabschlußanalyse verweist: diskussionswürdige Aufgabenstellungen mit mehrdeutigen Lösungen. Schauen wir mal, was der BWL-Bote jetzt schon wieder zu mäkeln hat:

 

  A. Eigenkapital
  Gezeichnetes Kapital 400.000
  Kapitalrücklage 60.000
  Andere Gewinnrücklage 74.000
  Bilanzgewinn 30.000
B. Sonderposten mit Rücklageant. 80.000
C. Rückstellungen
  Rückstellungen für Pensionen 72.000
  Steuerrückstellungen 8.000
  Sonstige Rückstellungen 40.000
D. Verbindlichkeiten
  Verb. gegenüber Kreditinstit. 206.000
  davon Restlaufzeit bis ein Jahr 60.000
  Verbindlichkeiten aus L&L 36.000
  sonstige Verbindlichkeiten 16.000
E. Rechnungsabgrenzungsposten 4.000

So sollten mit Hilfe der bekannten Gleichung (Formelsammlung) die Liquiditätsgrade einer Beispielunternehmung berechnet werden. Hierzu muß man bekanntlich die Geldmittel, die Barmittel plus die kurzfristigen Forderungen oder das Umlaufvermögen jeweils durch die kurzfristigen Verbindlichkeiten teilen. Während wir uns an dieser Stelle nicht über die Untiefen der Liquiditätsrechnung und die Klippen der Interpretation ihrer Ergebnisse verbreiten wollen, war im vorliegenden Fall die Ermittlung der kurzfristigen Verbindlichkeiten das Problem. Hierzu waren die nebenstehenden Daten gegeben.

In der Bilanzanalyse ist bekanntlich alles, was im kommenden Jahr passiert kurzfristig. Hauptproblem ist also, diejenigen Verbindlichkeiten zu identifizieren, die innerhalb eines Jahres ab dem Stichtag zu einer Auszahlung führen. Deren Summe ist die Grundlage für die Berechnung, und in diesem Fall auch für ein Problem.

Natürlich schauen wir erstmal in den offiziellen Lösungsvorschlag. Dort werden zunächst die 60.000 Euro Bankschulden aufgeführt, einverstanden. Sie sind ja direkt als kurzfristig bezeichnet.

Dann folgen die Steuerrückstellungen i.H.v. 8.000, die sonstigen Verbindlichkeiten von 16.000 Euro und die Lieferantenschulden i.H.v. 36.000 Euro. Natürlich muß man hier wissen, daß Rückstellungen ebenfalls Verbindlichkeiten sind (nämlich solche, die hinsichtlich Zeitpunkt und/oder Höhe der künftigen Auszahlung ungewiß sind). So weit, so gut. Dann aber kommen erste Zweifel:

So bezieht die Musterlösung auch die 40.000 Euro sonstige Rückstellungen in die kurzfristigen Verbindlichkeiten, ohne daß aber ersichtlich wäre, ob diese wirklich kurzfristig sind. Es könnten auch Gewährleistungsrückstellungen sein, die deutlich längere Fristen als ein Jahr haben. Dann aber addiert die Musterlösung die passive Rechnungsabgrenzung, da es sich um Vorauszahlungen von Kunden handele. Das aber ist höchst zweifelhaft, denn dafür gäbe es eine eigene Bilanzposition. Zu einer PRAP kommt es zwar in der Tat bei bestimmten (aber eben nicht allen) Kundenvorauszahlungen, wenn beispielsweise unser Mieter die Miete für eine Periode im Folgejahr vorauszahlt, aber der Mieter hat die Mietsache ja schon. Ein Ausweis als Verbindlichkeit unterbleibt daher, weil dem Kunden nur die Mietsache weiter gewährt, nicht aber Geld zurückerstattet werden muß. Dies unterscheidet den Ausweis des PRAP von dem der Kundenvorauszahlung bei der Erteilung von Aufträgen, wie im Handwerk oder auch im Reisegewerbe üblich.

Schließlich, und das ist wirklich zweifelhaft, soll auch der Bilanzgewinn i.H.v. 30.000 in die kurzfristigen Verbindlichkeiten einbezogen werden. Hierzu muß man zunächst nach dem Rechenschema schlagen, und zwar in §158 AktG. Dann schlagen alte Aufgaben zu diesem Thema zurück, über die wir uns an dieser Stelle schon ausgelassen haben. Unabhängig davon enthält die Aufgabe aber keinen Hinweis auf einen Gewinnverwendungsbeschluß der Hauptversammlung. Ob der Bilanzgewinn also wirklich ausgeschüttet oder nicht doch thesauriert werden soll, ist daher ungewiß.

Das aber ist das oben erwähnte Grundübel: Aufgaben zur Jahresabschlußanalyse erfordern oft sehr weitreichende zusätzliche Informationen oder sind mehrdeutig. So existieren im vorstehenden Beispiel viele mögliche Lösungen, die meist von der offiziellen Lösungssumme i.H.v. 194.000 Euro kurzfristige Verbindlichkeiten abweichen – je nachdem, welche der genannten zweifelhaften Positionen man einbezieht und welche nicht.

Dies also ist eine Aufgabe mit Wenn und Aber: der Prüfungsteilnehmer muß in der Aufgabenstellung fehlende Angaben aus eigener Sachkenntnis sinnvoll ergänzen. Er produziert dann eine richtige Lösung, aber nicht das einzige anzuerkennende Ergebnis. Wenn das der Prüfer nicht auch erkennt und entsprechend anerkennt, dann wird aus der Prüfung mit Wenn und Aber eine Prüfung mit Ach und Krach.

Links zum Thema: Formelsammlung der BWL | Der Bilanzgewinn und die SGD, oder wie man Können und Erkennen sachgerecht vermittelt | Wissen, Können und Erkennen, oder von der Treppe, die zum Prüfungserfolg führt | Fehler in IHK-Prüfungen: wieder eine neue Knallschote | Fehler in IHK-Prüfungen: Die »2:1-Regel« | Fehler in IHK-Prüfungen: Das Ding mit der kalkulatorischen Abschreibung | Wieder Fehler in IHK-Prüfung entdeckt | Skript zum Jahresabschluß nach HGB | Skript zur Rechnungslegung nach IAS/IFRS (interne Links)

Literatur: Zingel, Harry, "Bilanzanalyse nach HGB", Weinheim 2006, ISBN-13: 978-3-527-50251-6, Amazon.de. Auf der BWL-CD ohne Mehrkosten enthalten.

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